So klein und so gefährlich

Vor ein paar Tagen war im Internet zu lesen, dass eine blinde Passagier-Ratte einen ganzen U-Bahn-Waggon in New York zum Erbeben gebracht hat. Passagiere sind auf Bänke geflüchtet, haben hysterisch geschluchzt und gewimmert und bei der kleinsten Bewegung des Nagers geschrien. Nun sind Ratten sicherlich nicht jedermanns Lieblingshaustier und das auch mit gutem Grund. Krankheitsüberträger, Überlebenskünstler, Rudeltiere, Allesfresser, dem Menschen alles in allem sehr ähnlich, versetzen sie uns durch diese Ähnlichkeit und die nackten kleinen Füße, nicht zu vergessen den rosafarbenen, recht langen Schwanz, in Angst und Schrecken.

In einer Stadt wie New York, wo reale Gefahren wie Verfettung, Verarmung oder Verrohung an jeder Straßenecke lauern, wo Kinder  zynischer sind als 60 jährige Landbewohner es jemals noch werden können, ist das beachtlich. Vielleicht liegt es daran, dass man die Gefahr benennen und identifizieren kann und selbst nicht aus der Komfortzone kommen muss dafür? Es ist leicht, sich vor einer Ratte, die ca. 80 Mal leichter ist als ein durchschnittlicher, burger-pommes-creamshakes-verzehrender New Yorker ist, zu fürchten. Endlich kann man mal alles an Ängsten rauslassen und muss gar nichts an seinem Konsumverhalten ändern. Ich trinke jeden Tag eineinhalb Liter Coca Cola? Das soll gefährlich sein? Neinnein! Eine kleine Ratte ist es. Perfide Logik.

Ähnlich geschehen heute – mal wieder – im Jardin des Tuileries:  Eine junge asiatische Frau knabbert weinend an ihrem Baguette. Ihr Freund wedelt halbherzig mit seinem Baguette ein paar der allerdings beachtlich stattlichen Tauben weg. Das stört sie nicht. Sie sind Schlimmeres gewöhnt und flattern nur kurz höflich hoch. Beim Wedeln verliert er knackige Krümel. Das ist gut. Das Mädchen weint inzwischen verzweifelt. Sie lässt ihr Baguette nicht los. Sie geht nicht aus dem Park. Sie steigt auf einen Stuhl. Was bei Vögeln nicht so viel bringt, wie bei Ratten. Sie weint immer heftiger, er wedelt immer weniger. Der Konflikt scheint tiefer zu liegen.

Ängste sind irrational. Ob man sich ihnen aussetzt, ist meist wählbar.

Simply perfect

Es gibt einfach Menschen, bei denen sehen Schuhe immer neu aus, Hosen immer gebügelt und Hemden nie anders als rein und gestärkt. Die Haare werden nicht fusselig, sondern locken sich im Wind. Sie laufen durch Parks, wie zum Beispiel den Jardin des Tuileries und alles an ihnen sieht neu und rein – preppy – aus. Während man selbst, glücklich zwar, aber eben doch etwas ramponiert von der Frühlingssonne, der Frühlingsbrise und dem saisonübergreifenden Staub auf einem der pistaziengrünen Eisenstühle sitzt. Und staunt. Eben hat man noch über ein Buch gegrübelt, aufgeschaut, woher der Lärm kam – ah, ein Kind, das einen Eiffelturm aus Plastik möchte, aber nicht bekommt – und im nächsten Moment ist man genötigt, derart philosophische Betrachtungen anzustellen.

Aber dann. Dann erhascht man durch den leichten Frühlingswind die Gesprächsfetzen der drei Perfekten nebenan. Schnell das Schulfranzösich zusammengekratzt (Zeit wird’s eh, lange kann man dem Metzger nicht mehr weis machen, dass man eine arme zugereiste Deutsche ist, die sich auf die Hüfte klopfen und muhen muss, um ein Stück Rinderlende zu bekommen, von Huhn mal ganz zu schweigen) und dann gestaunt.

Alles, was bisher wie ein angeregtes Geplauder über eine Ausstellung, den Besuch beim Edelschuster Roger Vivier (Tüte) oder auch die geplanten Ferien auf dem Boot geklungen hat, waren detaillierte Lästereien über jeden sichtbaren Besucher des Parks. Und der ist nicht klein. Die Sprache troff vor Häme, die Gestik war abwehrend und genervt und die Mimik spiegelte fast schon Ekel wieder.

Das war der Moment, sich wieder auf die Tauben und die Blumen und die Sonne zu konzentrieren. Die sind, was sie sind.