Schlangen

Eine kleine Nachbetrachtung zum Tag der Deutschen Einheit kann an dieser Stelle nicht schaden: Wie schön, dass alle wieder zusammen gehören und von den gleichen Vorteilen profitieren. Wunderbar, dass es ausländische Autos und künstliche Fingernägel für alle gibt, jedermann jede noch so schlichte US-Soap gleichberechtigt und vor allem zu jeder Stunde des Tages sehen kann, es dieselben Billigmarken so günstig zu kaufen gibt, dass junge Menschen das Konzept des Waschens und Wiederanziehens komplett verlernen und die Sachen nach einem Mal Tragen einfach wegwerfen, hach, ich könnte hier noch stundenlang die Vorteile des us-hörigen Westens aufzählen, in der Summe soll es wohl heißen: Nicht mehr anstehen müssen und alles haben können.
Was passiert aber dann in einer der konsumwütigsten Metropolen Europas? In Paris? Am Sonntag in einer belebten Marktstraße, in der alle Geschäfte offen sind? Man sitzt arglos in einem Café, spricht darüber, dass der Wetterumschwung in der Tat dramatisch war, es saukalt geworden ist von jetzt auf gleich, sinniert drüber, ob man die Triglie oder doch die Pfifferlinge macht, wer wann nächste Woche wohin fliegt und starrt gedankenverloren auf ein seltenes Phänomen: eine Schlange vor einem Geschäft, die sich um die nächste Straßenecke windet. Nun kennt man sowas – erstaunlicherweise – von hochpreisigen Prestigegütern des aperiodischen Bedarfs (stimmt auch nicht, kommen alle zwei Jahre neu raus, also schon periodisch), wenn zum Beispiel ein neues iPhone mit noch nie da gewesenen Funktionen auf den Markt kommt. Bei näherer Betrachtung steht aber diese Schlange vor einer Boulangerie an. Ja um Himmels Willen! Was machen die denn für ein Baguette? Und können Koreaner wirklich schon über diese Ortskenntnis verfügen, wenn sie sich pärchenweise in die Schlange stellen? Oder ist es hier die Macht der Gewohnheit? Mein Mann, immer aufgeschlossen für moderne Phänomene, wollte sich schon einreihen, getreu dem Prinzip, muss was dran sein. Ich denke eher schlicht und weiß, dass ich persönlich den Unterschied von zwanzig Minuten Warten nicht schmecken würde, vor allem, weil ich a) die meiste Zeit noch ärgerlich wäre wegen der Schlange und b) weiß Gott was erwarten würde. Ich fürchte, ich wäre vor 25 Jahren und ein paar Tagen noch verhungert oder verlottert, weil ich mich fast nie angestellt hätte. Übrigens, um der Sorge vorwegzugreifen, wir haben ein tippitoppi Baguette in einem ganz süßen Laden ein paar Meter weiter bekommen.

3 thoughts on “Schlangen

  1. Dieser, um es bairisch zu sagen, Bäckerladen wurde vor ca. zwei Wochen lang (wie Baguette) und breit, wie unser Roggenbrot besprochen. Es war mir klar, dass meine sehr verehrte Bloggerin über kurz oder lang über diese erwähnte Schlange stolpern würde. Das beweist wieder, dass auch Paris nur ein Dorf ist.
    Zur Wiedervereinigung kann ich nur sagen, dass das damals wirklich ergreifend war und wie auch bei jeder Hochzeit und jedem Happyend keiner an die Folgen und die Zukunft dachte.

    • Ich bin fassungslos. Stand vermutlich mal wieder in unserem Lokalblättchen, muss es jetzt doch mal abonnieren. Oder mich wieder besser auf Informanten verlassen können!

  2. Zu dieser Informationslücke kann ich nur festhalten, dass der Standortwechsel manchmal sehr spontan stattfindet. In Rom, Fontana di Trevi, derzeit in Reparatur, hat man einen Laufsteg aufgebaut, der sich über den trockenen Brunnen windet und nur max. 120 Personen drauf lässt um zu flanieren. Geld kann in Plastikwanne geworfen werden! So, Pflicht getan!

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