Die Etikette

Gestern war ich in Versailles zu einer Ausstellung und tatsächlich war das Ticket auch für ganz Versailles gültig. Allerdings möchte bei kalten, nieseligen zwei Grad kein Mensch die Gärten anschauen – Springbrunnen hin, Lustpavillons her – und so blieb viel mehr Zeit für die Gemächer von Königin und König. Wer weiß zum Beispiel, dass das Wort Appartement meist eine Abfolge von fünf Räumen bezeichnet, die immer intimer werden, bis sie schließlich im Kleinen Kabinett münden? Da ist ganz genau geregelt, wer wo rein darf.

Geregelt ist das über den Stand der jeweiligen Personen. Ins offizielle Schlafzimmer der Königin und des Königs durfte hingegen jeder, der sich an die Etikette hielt. Das war schlau ausgedacht von den Hofmeistern, denn der Hof an sich – so groß er auch war – stellte doch eine recht einzigartige Konstruktion dar: viele, viele Menschen aus verschiedenen Schichten trafen aufeinander. Sie waren nicht wie auf Bauernhöfen miteinander verwandt, Mehrfamilienhäuser gab es nicht in der Masse und wenn, hatten die Leute nicht viel miteinander zu tun. Bei Hof war das anders. Jeder wollte möglichst nahe an der Macht, am König sein. Und damit sich nicht dauernd alle übereinander ärgern und das Miteinander reibungslos verlaufen kann, hat man die Etikette erfunden (mir ist klar, dass jeder Experte an diesem Punkt schluchzend wegen dieser groben Darstellung den Blog verlassen hat).

Die Etikette ist also nicht ein blödes Regelwerk von alten Tanten und Spießern, sondern vom Prinzip her eine prima Überlebensstrategie, die erst durch sehr gutes Einanderkennen zur Seite gelegt werden kann – und selbst dann nicht komplett. Wer un’höf’lich ist, verliert seine Stellung und oft auch seine Lebensgrundlage. Viele Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen haben, kommen meiner Meinung nach schlichtweg daher, dass wir nicht dieselbe Etikette teilen und dass das, was der Andere, Fremde tut, uns aus der Gewohnheit heraus sauer aufstößt, uns beleidigt, weil wir Absicht dahinter vermuten. Beim Händeschütteln geht es los, zu kurz, zu lang, in die Augen schauen, zur Seite. In meiner ersten Zeit in Rom war ich schwerst verunsichert, weil Männer rigoros zur Seite geschaut haben, wenn mein Mann sie mir vorgestellt hat. War ich so hässlich? Fanden sie mich doof? Nein, sie waren nur sehr respektvoll meinem Mann gegenüber, das ist alles. Wenn man sich das alles mal so überlegt, dann ist Etikette ein wunderbares Vehikel, das es erlaubt, den Menschen hinter dem Verhalten zu finden, weil man sich nicht grundlos über ihn wundern oder gar ärgern muss.

Ein Gedanke zu „Die Etikette“

  1. Mein liebster Spruch seit vielen Jahren ist: Höflichkeit ist die schlimmste Form der Verachtung, richtig heißt es, die sicherste Form der Verachtung. Für diesen Blog habe ich den Spruch gegoogelt. Ich dachte ja, es war Schopenhauer, nein, es war Böll. Aber, ich finde er hat recht. Denn es ist schon ein großer Unterschied, wie man mit den Mitmenschen umgeht. Herzlich und wohlerzogen oder höflich und wohlerzogen. Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Miteinander ist immer, dass man die Anstandsregeln beherrscht. Das sind die Kleinigkeiten, die die Abläufe geschmeidig machen. Unglücklicherweise haben einige fehlgeleitete Feministinnen seit den sechziger Jahren nichts anderes zu tun, als höfliche Menschen, Männer zu verunglimpfen. Dass sich damit die Umgangsformen drastisch geändert haben, ist fast normal. Es gibt heute kaum mehr Familien, selbst in der sogenannten Oberschicht nicht, die ihren Kindern die einfachsten Regeln für gutes Benehmen beibringen. Ältere Personen zu respektieren, sehen, wenn etwas getan werden kann, selbstverständlich Hilfe anbieten, Gespräche nicht unterbrechen…..Es ist eine endlose Liste, aber wenn jemand ein klein wenig Erziehung hat und uns begegnet, sind wir alle sehr erfreut über den angenehmen Verlauf eines Treffens. Und so war es halt damals bei Königs auch, halt etwas komplizierter. Also, ganz ehrlich, ich möchte werder le grand coucher noch le grand lever, ich bin froh, wenn mir dabei keiner im Wege steht und ich alleine bin. So, nun bitte ich, meine Räumlichkeiten zu verlassen, ich möchte mich zur Ruhe begeben!

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