Karaoke al Corviale

Wir wohnen ja schon in einer wilden Gegend. Aber es gibt noch viel, viel wildere, wenn man weiterfährt. Solche, die aus einem einzigen Gebäude, dem Corviale bestehen, das fast einen Kilometer lang ist und auf einem Hügel steht. Man sagt, der Architekt hätte sich umgebracht, als er gemerkt hat, was aus seinem Bau geworden ist. Wobei er sich das schon auch ein bisschen hätte denken können, meine ich. Was soll aus einem solchen Monster denn werden? Alles grau und eckig. Also wirklich. An dem Hügel darunter weiden Schafe und Pferde und dazwischen wohnen vereinzelt Menschen in Baracken und alten Wohnwagen. Einmal, in meinem ersten Jahr, bin ich mit einem Bekannten dahin gefahren. In einem Auto mit italienischem Kennzeichen. Ich bin selbst gefahren und kann mich noch erinnern, dass ich damals dieses ganz instinktive Angstgefühl gespürt habe, das man manchmal hat, wenn man eine besonders tolle Abkürzung am Abend läuft oder in der Dämmerung noch im Wald ist. Im Corviale jedenfalls ist eine Polizeistation beherbergt (sagt man) und auch ansonsten würde viel für die Sicherheit getan und überhaupt ist gar nicht erwiesen, dass man wegen niedriger Mieten und viel Grau automatisch ein böswilliger oder gar krimineller Mensch sein muss. Nur die Vorurteile, die halten sich halt doch.

Gestern also war ein Freund meines Mannes bei uns. Er hat bereitwillig Asyl erhalten, um die Anfänge der Bundesliga sachkundig zu erörtern. Dann sollte er mit seiner Frau, einer lieben römischen Freundin von mir, die leider sonst in Frankfurt wohnen muss und deren über achtzigjährigen Vater zum Essen gehen. Begleitet wurden sie von den zwei Töchtern und – und das war das eigentliche Ziel – von zwei zauberhaften Witwen, Paola und Lukrezia, ebenfalls hoch in den Achtzigern, die man mit dem Witwer zusammen bringen wollte. Zu allseitigem Nutzen. Allein der Witwer bockt. Die römische Freundin teilte mir telefonisch mit, wohin der Ferragosto-Ausflug gehen sollte und nachdem ich die Herren an ihre edelste Pflicht als Beschützer von Gattinnen, Kindern und Alten gemahnt hatte und Fußball eh rum war, sind wir alle zusammen dorthin aufgebrochen, obwohl sie zunächst nicht so sehr wollten. Und was soll ich sagen? Es wurde ein herrlicher Abend. Sogar mit Disco und DJ. Und Kaninchen. Die waren allerdings in ihrem Paradies aus alten Einkaufswagen, ausrangierten Kinderkarussellfahrzeugen und kaputten Schaukeln so misstrauisch, dass sie sich nicht um alles in der Welt streicheln lassen wollten. Hatten vermutlich Angst, gegessen zu werden. Und ganz ehrlich, so weit hergeholt war die Angst sicher nicht.

Weil die Musik so schön war, wollte ich sie noch schöner machen und bin zum DJ hin, um mir ein Lied zu wünschen. Er fragte mich, ob ich schon einen Zettel ausgefüllt hätte. Zwei Lieder dürften es sein und meinen Namen solle ich dazu schreiben. Komisch, hab ich mir gedacht, von wegen chaotisches Italien! und bin kichernd zum Tisch zurück. Dort teilte mir mein Mann mit, dass es sich um Karaoke handle und wenn ich diesen Zettel ausfülle, müsse ich singen. Das nun doch nicht. Ich war zwar erfolgreiche Elevin einer anerkannten Singschule, aber bin ich denn blöde und singe als Deutsche in Italien ein italienisches Lied? Noch dazu eines, das alle kennen? All das hat auch erklärt, warum manche Lieder doch ganz anders geklungen hatten als sie es sonst eigentlich tun. Wir haben also den Zettel unter der Tischdecke versteckt, aber nicht mit dem Veranstalter gerechnet. Der kam dann an unseren Tisch und hat gefragt, was ich mir denn nun wünsche. Ich hab ihm – wie ein Kaninchen vor der Schlange – gesagt, dass ich unter gar keinen Umständen niemals vor so vielen Muttersprachlern singen würde und das hat er eingesehen und mir das Lied dann höchstselbst gesungen! Ist das nicht obergoldig? Es gibt eben in jeder Betonwüste auch Blumen, die in den Ritzen wachsen!

4 Gedanken zu „Karaoke al Corviale“

  1. Ganz am Anfang, vor ca. 8 bis 10 Jahren hat die sehr verehrte Bloggerin mir das oben besprochene Wohngebiet gezeigt. Ehrfurchtsvoll staunend saß auch ich erstarrt und unbeweglich auf dem Beifahrersitz und habe darauf geachtet, dass das Auto ja nicht stehen bleibt. Denn wir waren mit dem Smart und zwei Hunden unterwegs, in etwa so gesichert wie in einer Plastiktüte. Das hat mich sehr an meinen Besuch in Ostberlin Anfang 1990 erinnert, als ich die sehr verehrte Bloggerin in Ostberlin besucht habe. Da sie dem Broterwerb nachgehen musste, hatte ich Freizeit ohne Ende. Im spartanischen Speisesaal eines ehemaligen Stasihauses habe ich einen der Ureinwohner gefragt, wie das so sei, wenn ich jetzt hier langsam spazierenfahre und so. Man hat mir immer geraten, Türen von innen zu und um Himmelswillen nicht stehenbleiben. Mit Stadtplan bin ich dann durch ganz Marzahn gefahren, misstrauische Blicke, nicht wirklich einladend und genauso wie das Corviale beschrieben.
    Ich bin stolz auf die sehr verehrte Bloggerin, dass sie das auf sich genommen hat. Schade, dass sie nicht gesungen hat! Man hätte noch in fünfzig Jahren davon gesprochen!

    1. Vielen Dank! Ich fühle mich arg geschmeichelt, denn ich muss bei einem solchen Kommentar aus dieser sehr berufenen Feder einfach davon ausgehen, dass man all das Geld in meine vokale Ausbildung und Verfeinerung sicherlich nicht ausgegeben hätte, wenn nicht eine erfreuliche Basis da gewesen wäre.

  2. Hihi, ich hätte mich natürlich auch gefreut, wenn die liebe Bloggerin gesungen hätte. Was mich nun sehr interessiert, was ist aus dem bockigen Alten geworden, äh Herren natürlich, hat er nicht angebissen bei gleich zwei Damen zur Auswahl? Männer! Ich kenne dieses Wohngebiet übrigens auch, da die liebe Bloggerin anscheinend mit allen Besuchern diese Horrortour macht, damit man glaubt, Rom sei nicht so schön zu wohnen und man müsse sie gar nicht beneiden. Komisch ist, dass sie das mit beiden Skorpionen ihres Umfelds gemacht hat, das bringt mich zum nachdenken! Was meint ihr, liebes Prunkschaf?

  3. Meine liebe Mare, das hat die sehr verehrte Bloggerin mit uns beiden gemacht, weil sie weiß, wie unerschrocken wir beide auf derartige Dinge reagieren. Sowas bringt uns doch nicht aus der Ruhe, wir machen uns nur Sorgen ob das kleine Fischlein damit fertig wird! Da sie weiß, daß wir hinter ihr stehen, auch wenn wir körperlich nicht anwesend sind, ist die sehr verehrte Bloggerin so stark!

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