Man müsste Klavier spielen können

Am Gare de l’Est steht ein Klavier. Jeder kann es benutzen nach Belieben. Und es wird zum Glück häufig genutzt. Wenn man so etwas sieht, inmitten dieses Trubels, der Trickbetrüger, Gehetzten und Arbeitsunwilligen, die aus den Vorortzügen strömen, dann blitzt es durch einen hindurch, dass es keinen Ort gibt, an dem es nicht auch etwas Schönes, Außergewöhnliches zu finden gibt.
Bestimmt gab es viele Kritiker, die gesagt haben: ja, aber was, wenn jemand es kaputt macht, Cola reinschüttet oder wenn die Tauben darin nisten? Dann wird der Klavierbefürworter gesagt haben, dafür haben wir doch diese Masse an Securityleuten, die können doch auch mal was Schönes bewachen und nicht immer nur nach jugendlichen Randalierern Ausschau halten.
Heute Morgen, als ich abgefahren bin – ich war leider zu spät mit dem Foto – hat ein junger, sehr wild aussehender Mann mit Kapuze und allen Insignien, die normalerweise eben jene Securitymänner auf den Plan gerufen hätten, am Klavier gesessen und das schönste, romantische Stück überhaupt gespielt.
Vielleicht hat es ihn daran erinnert, dass er in seiner behüteten Kindheit das Klavierspielen gar nicht so gern mochte, seine Oma es aber geliebt hat und ihm gesagt hat, Jean, Du spielst wie ein Engel. Dann hat er ein Stück Schokolade bekommen und sie hat ihm versonnen übers Haar gestrichen und gesagt, Dein Opa, Du kommst ganz nach Deinem Opa, der hätte sich so gefreut, Dich spielen zu hören. Und weil das alles so eiteitei war, musste Jean natürlich ausbrechen, die Schule abbrechen, in Paris ein wenig untergehen und ab und zu am Bahnhof Passanten um Geld ansprechen. Wenn er aber das Klavier sieht, denkt er immer an seine Oma und dass es eigentlich nicht gar so schlimm war, behütet zu sein und Klavierstunden zu nehmen und dass das Wilde draußen sich doch auch ein wenig abgenutzt hat.
Ob der Klavierbefürworter das alles bedacht hat? Vielleicht hat ein Klavier eines Tages sein Leben gerettet. Wer weiß das schon?

3 thoughts on “Man müsste Klavier spielen können

  1. Immer, wenn ich irgndwo ein Klavier sehe, habe ich den kaum zu bremsenden Wunsch darauf zu spielen, Nun muss man wissen, dass die Unmusikalität einen Namen hat, und der ist nun mal Prunkschaf! Fatal, aber man muss damit leben. Also, im Musikunterricht bin ich immer knapp an der Watschen vorbei gekommen, ich konnte wirklich nicht singen und war so aufgeregt, dass meine Stimme erbärmlich ezittert hat und ich ellenweit von der geforderten Tonlage entfernt war. Also bei mehrstimmigen Gesängen durfte ich dann die dritte Stimme singen, das war so mehr ein tiefes Brummen. Naja, diese Folterjahre gingen auch vorbei. Dann, als ich die Fünfzig bereits locker überschritten hatte, habe ich mir ein Klavier gemietet, einen armen, hilflosen, bedauernswerten jungen Mann, der sonst Musikunterricht für Kinder gibt, dazu verdonnert, mir Klavierspielen beizubrinen. Also, mit der rechten Hand, und wenn auf dem Notenbuch die Noten mit den Ziffern 1-5 bezeichnet sind, weil ich ja nur 5 Finger habe rechts! dann kann ich fließend, etwas abgehackt zwar, alle meine Entchen spielen. Wenn die linke Hand dazu soll, wird es problematisch. Aber trotzdem, ich habe geschickt ein Stück auswendig gelernt, d.h. meine Finger, die sind dann wieselflink, automatisch über die weißen Tasten – schwarze brauche ich nicht – gesaust. Mit diesem Können bin ich in ein vornehmes Klaviergeschäft gegangen und habe mich mit Kennermine an die schönsten Flügel und Klaviere gesetzt. Man hat zwar über meine Fingerfertigkeit gestaunt, aber wenn der Rubel rollt… Ich habe mir einen Stutzer, kleiner Flügel! gekauft. Wirklich gelernt habe ich es leider nie, weil ich einfach das mit den Noten nicht verstehe und diese schwarzen Tasten und die dann plötzlich zusammengebundenen Noten und lauter so Zeug und dann auch noch mit zwei Händen und ich muss ja auch auf die Tasten schauen und auf die Noten und ich sollte jedes Stück mitsingen können, damit der Rhythmus stimmt…. hätte ich als Kind mich nur nicht so stur gegen meine Mutter gestellt, könnte ich es heute. Schuld hat meine Mutter, sie hat sich nicht durchgesetzt!

    • Meine Mutter leider auch nicht. Kann auch nicht Klavier spielen. Aber ich finde, bei Männern ist es viel wichtiger. Sie müssen dann noch eine aufgebundene Fliege um den Hals haben, etwas melancholisch schauen, ein Whiskyglas oben drauf stehen haben und ein Eimerchen Champagner in Reichweite. Ich selbst hätte dann meinen Frieden mit meiner Mutter gemacht, dass ich nicht Klavierspielen kann.

  2. Soweit ich mich erinnere, ist die sehr verehrte Bloggerin diesbezüglich ein Naturtalent und hat bereits in sehr jugendlichem Alter die allerliebsten Weisen auf diesem mit Strom betriebenen Instrument gespielt! Unterricht gab es schon, allerdings in der ganz frühen Kinderzeit, außerdem stand ein hochmusikalischer Vater zur Seite, dieser konnte (kann) nicht nur wunderschön singen, nein, auch das Klavier war ihm nicht fremd. Blauäugig wie ich bin, dachte ich halt das reicht, und habe das gesparte Geld für den Klavierunterricht für Mathenachhilfe angespart! Sicher wäre ein Mathegenie, das flink die Finger über Klaviertasten fliegen lassen kann, auch schön, aber wir kommen mit den vorhandenen Schwächen ganz gut zurecht, und dann bin ja immer noch ich da!

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