Kopfkamera versus Yoga

Heute auf dem Batobus in Paris und überhaupt in der ganzen Stadt und auch in Rom kann man ein Phänomen beobachten: Menschen, die mit langen Stecken vor sich herlaufen. Auf denen sind Fotokameras montiert, damit sie jeden Schritt dokumentieren können. Autos werden mehr und mehr mit Fahrtkameras ausgesatattet, Motorräder und Skifahrer eh und ganz besonders Engagierte sind sich nicht zu schade, einen Helm mit montierter Kamera auch in der Stadt zu tragen. Dabei werden auch Menschen gefilmt, die das vielleicht gar nicht möchten, das nur nebenbei. Solches Verhalten wirft viele Fragen auf.
Wann sehen sich die wilden Filmer all das an? Da alles in Echtzeit ist, dauert das Anschauen nochmal so lange wie das Erleben und hält einen somit vom Erleben neuer Dinge ab.
Welche übergroße Angst, etwas zu verpassen, treibt Menschen dazu, so etwas zu tun?
Wie passt eine derartige Zeit- und Raumwahrnehmung mit dem frenetischen Yogatrend zusammen? Dem Trend, im Hier und Jetzt zu leben, den zigmillionenfach angepriesenen Achtsamkeitsübungen, dem ganz in der Gegenwart aufgehen? Wieso sollte der Moment später besser sein als der Moment jetzt? Hat das Künftige gar nichts Schönes, Spannendes zu bieten?
Werden Vergangenheit und Zukunft höher bewertet als der Augenblick?
Ich habe eine Freundin, die Städte fast ausschließlich durch die Linse ihrer Kamera wahrnimmt. Sie macht traumhafte Fotos und freut sich an regnerischen Tagen daran. Auch ich fotografiere gerne, zwar fast nie Menschen, aber auch ich freue mich an den Ergebnissen. Allerdings hat es eher Hobbycharakter, weil mir das Farben- und Formenspiel mancher Bauten und Details gut gefällt.
Die Realität eins zu eins abzubilden und sie später erneut abzuspielen, käme mir nie in den Sinn. Ich würde wirklich gerne verstehen, warum jemand das tut.

5 thoughts on “Kopfkamera versus Yoga

  1. Liebe Bloggerin, nachdem ich einen Sohn im gefährlichen Alter habe kann ich hier vielleicht mal zur Aufklärung beitragen. Das Geheimnis ist Youtube! Stundenlang werden da Videos angeschaut. Wo wir uns noch gefreut haben, dass im Fernseher Bonanza lief, ist für diese Generation Fernsehen nicht von Bedeutung. Diesbezüglich muss ich keine Angst haben, dass er vor diesem verblödet. Auch alles, was man erlebt, mit allen, die man kennt, zu teilen auf Faceboo, WhatsApp! Instagram usw. ist wichtiger als wir vermuten. Tja, so verändert sich die Welt. Ob es gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. Ändern können wir es nicht, aber freuen, wie schön es bei uns war.

    • Liebe Mare,
      vielen Dank für diese wirklich hilfreiche Erklärung. Ich wäre in der Tat niemals drauf gekommen, dass es jemanden interessiert, wie ich eine Straße entlanglaufe oder aus dem Batobus steige. Ist das alles betrüblich. Ich suche auf Youtube immer nur alte Schnulzen, wenn überhaupt. Meist fürchte ich mich, weil ich nicht sicher bin, ob ich die überhaupt kostenlos anhören darf und kaufe mir dann doch die CD. Sehr albern vermutlich.

  2. Gar nicht albern. Mir geht es ebenfalls so, habe immer ein schlechtes Gewissen beim Anhören. Meine Kinder schauen mich dann milde lächelnd an und spätestens dann weiß ich, dass ich nicht mehr ganz auf dem Laufenden bin. Ich werde nicht alt, um das nicht zu verwechseln.

  3. Grundsätzlich kann ich das nachvollziehen. Allerdings nur, wenn es sich um Fotos handelt. Liegt wahrscheinlich an meinem Alter. Denn ich selbst bin ein süchtiger Fotograf, der meint, was er nicht fotografiert hat, existiert nicht! Ich eigne mir die abgelichteten Objekte und Situationen damit an. Außerdem sieht man nur dann ganz tolle Dinge, wenn man keine Kamera dabei hat. Die sehr verehrte Bloggerin erinnert sich vielleicht an Sizilien 2009, als wir zu Dritt durch ein ausgetrocknetes Flussbett zu einem Traum von altem Friedhof gefahren sind. Ich hatte nicht die allerkleinste Kamera dabei. Und sonst auch niemand. Wahrscheinlich muss ich da nochmal hin! So etwas darf nicht passieren. Sogar hier im Bett habe ich sicherheitshalber eine dabei.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert