Eskapaden und Kapriolen gibt es in der Natur zuhauf und so können wir trotz der grundsätzlichen Tendenz, im Leben immer was dazuzulernen, auch feststellen, dass es die ein oder andere Fähigkeit gibt, die von Geburt an eins A da ist, sich kurz umschaut, ob sie weiterhin gebraucht wird und wenn nicht, einfach wieder verschwindet. So wie einer in seiner Stammkneipe den Kopf durch die Schwingtüre steckt, schaut, ob die Kumpels da sind, nein, gut, dann kann ich ja wieder gehen. Schwimmen und Tauchen zum Beispiel können Babys, wenn sie aus dem Leib schlüpfen und verlieren es ärgerlicherweise nach fünf bis acht Monaten wieder, nur um es dann für teures Geld und unter Aufbringung von viel Geduld seitens aller Teilnehmer mit drei bis vier Jahren wieder zu erlernen.
Oder denken wir an die Beweglichkeit. Wer hätte noch nicht fasziniert zugeschaut, wie Babys sich auf der Wickelkommode mühelos ihre fleischigen kleinen Füßchen in den Mund stecken, um ausgiebig halt mal an denen anstatt auf den Fäusten herumzunuckeln. Jahre später plagen sich einige von uns beim Yoga immer noch damit herum, mit den Fingern die Füße im Stehen (mit durchgedrückten Beinen) zu berühren. Oder nehmen wir die Sensibilität, die Empathie. Schon im Kleinstkindesalter empfinden Kinder Mitgefühl, können sich in ein anderes hineinversetzen, möchten es trösten, wenn es traurig ist. Und oft können zu Tränen gerührte Mütter oder Großmütter beobachten, wie eine grob motorische Patschhand aus dem Kinderwagen sich einem weinenden anderen Kind zuneigt. Manchmal geht es sogar so weit, für kurze Zeit das geliebte Schmusetuch/Tier/Spielzeug anzubieten. Vernünftigerweise wird es aber schnell wieder zurückgeholt, bringt ja nichts, wenn man vor lauter Mitleid dann selber leidet. Da sind Kinder schlau.
Um wieviel erstaunlicher ist es vor diesem Hintergrund dann doch, dass diese Empathie im Laufe eines Menschenlebens, von dem idealerweise ja angenommen wird, dass es ein steter Lern- und Erfahrungsprozess ist, manchmal eher schwindet als zunimmt. Dass man erst nach vielen quälenden Lektionen wieder in Kontakt mit seinen Füßen kommt – nebensächlich. Macht das Leben gefühlskalt, unbeugsam? Was muss passieren, dass einer die Gefühle anderer Menschen gar nicht mehr wahrnimmt? Ist Empathie etwas, das wie die hinteren Beinmuskeln trainiert werden muss? Eine Fähigkeit, die verkümmert, wenn sie nicht gepflegt wird? Und warum wird sie nicht gepflegt? Und wenn schon keine Empathie, warum dann auch keine Sensibilität? Wo sie doch meist in einem Übermaß in Bezug auf die eigene Person vorhanden ist? Gehorcht Sensibilität den Prinzipien des Nullsummenspiels? Muss sie einfach irgendwo hin? Fest steht: wer sich nicht in andere einfühlen kann oder möchte, muss ein ganzes Leben ausschließlich mit sich selbst leben, sein Erleben endet dort, wo seine Haut aufhört.
Empathie kann man nicht lernen und manch einer von uns wird ja belächelt, wenn er sich zu sehr um jedes Elend dieser Welt kümmert. Ich beobachte das immer mehr, dass es wenig Menschen gibt, die wirklich mit einem leiden wollen. Sind wir abgestumpft, wird von uns zu viel erwartet, tragen wir zuviel Last auf unseren Schultern? Natürlich hat jeder sein Päckchen zu tragen, aber man darf dann nicht vergessen, die, die um einen herum sind auch zu beachten und zu versuchen, Verständnis und Mitgefühl zu haben. Oft lese ich Dinge, die mich so traurig machen, dass ich gar nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ein Junge mit 16 Jahren, der fliehen musste, weil Männer ihm ins Bein geschossen haben, damit er nicht mehr zur Schule gehen kann, weil sie wollten, dass er für ihren Glauben kämpft und er halt einfach nicht wollte. So hat er seine Eltern und Geschwister zurück gelassen oder ist fort geschickt worden und lebt jetzt hier bei einem netten Paar, das Mitleid mit ihm hatte, deren Kinder aus dem Haus sind und die dem Jungen helfen wollten. Öfter mal das Herz öffnen und jemanden reinlassen!
Ich kann es gut nachvollziehen, wohin die Empathie entschwunden ist. Man will sich diese heute einfach nicht mehr leisten. Es ist anstrengend und Arbeit. Z. B. bei mir: wer um Himmels Willen hat noch Zeit und Lust, sich nach zwei Jahren, in denen sich ja eigentlich nichts geändert oder gebessert hat – nur OP Wunden sind verheilt – weiter mit Liebe und Hingabe nach mir zu erkundigen. Jeder Betroffene weiß ja um diese Dinge und versucht, sie dem Gegenüber zu erleichtern. Ein Handvoll Leute habe ich seit Monaten nicht mehr gesprochen. Ich merke ja, dass es störend ist. Umso besser ist es, den Kontakt zu den Wenigen, die geblieben sind, oder selbst erkrankt sind, zu halten. Das ist ein schwieriges Thema, das Leid auf der Welt ist zu groß und zu viel geworden, wir werden überzogen mit negativen Nachrichten und ich verstehe Jeden, der nichts mehr an sich heranlassen will.